Lisa, die 18 jährige Tochter von Vorständin Michèle, begleitete Raquel und Michèle auf ihrer Reise nach Griechenland. In diesem zweiten Teil gibt sie einen Einblick in ihre Erlebnisse und Eindrücke aus dem Amina Centre in Athen:
"Lautes Geplapper, bunte Fassaden und der Duft nach gegrillten Fleischspiesschen. Die Menge an Bars und Restaurants in den Touristenvierteln Athens ist überwältigend. Eines hübscher als das Andere. Mit Blick auf die Akropolis und der wärmenden Sonne im Gesicht hat man beinahe das Gefühl, in einer Traumwelt angelangt zu sein. Doch das täuscht, denn zu jeder Strasse gehört auch eine Nebenstrasse. Dort ist es plötzlich leiser, der Geräuschpegel rückt in die Ferne. Die coolen Graffiti sind immer noch auf jedem zweiten Haus zu sehen, doch mit jedem Schritt aus der Hauptstrasse rückt die Realität etwas näher. Die Realität vieler Menschen Athens.
Leise klopfen wir an das blaue Metalltor und die liebevolle Tereza öffnet uns die Tür. Sie ist CEO von SAO Griechenland und somit zuständig für die Geschäftsführung der beiden Frauenzentren hier. Eines in Athen, auch bekannt unter dem Namen Amina und eines auf Lesbos, Bashira. Im mit bunten Girlanden dekorierten Innenhof herrscht eine gemütliche Atmosphäre. Es liegen Spielzeuge herum, einige Kinder spielen. Mit grossen Augen sehen sie hoch und winken mir zu. Ich lächle, winke zurück und gehe weiter in die offene Küche, wo sich gerade einige Frauen Kaffee trinkend unterhalten. Meine Mutter und ich werden vorgestellt und herzlich begrüsst, worauf wir weiter in den nächsten Raum gehen. E., die Psychologin sitzt hier am Tisch und telefoniert, während zwei Frauen nähen und eine weitere ihr Kind betreut. Alle schauen uns freundlich an. Später setzen wir und mit Tereza und E. an einen Tisch und reden. Wir haben viele Fragen: Wie finden die Frauen ihren Weg hierher? Wie helft ihr ihnen? Und was haben sie für Aussichten? Frage um Frage können wir uns langsam ein Bild der ganzen Sache machen und irgendwann kann ich nicht mehr voll und ganz zuhören. Denn ich habe mich schon ein wenig verliebt in den kleinen D., der mich andauernd mit seinem mini Fussball anstupst. Ohne viele Worte spielen wir zusammen Fussball und er fragt mich schüchtern nach meinem Namen. Ich bin erstaunt ob seinem fliessenden Englisch und streiche ihm über seinen dunklen Lockenkopf. Beim Weggehen sehe ich seine kleine Hand winkend hinter mir und ich muss lächeln beim Gedanken an den morgigen Tag.
Am nächsten Tag stehen einige Interviews an und die Stimmung ist etwas angespannter, da einige Frauen nur schon beim Anblick des Kameraequipments etwas starr werden. Trotzdem werden wir aufs Neue mit liebevollem Lächeln begrüsst. Bei einfachen Fragen wie: Was bringt dich hierher? wird schnell klar: Die Frauen haben viel zu erzählen. Einige etwas mehr und andere etwas weniger aber alle öffnen sich. Es sei ihr erst durch SAO wieder möglich Treppen zu steigen, meint eine Frau. Wieso Treppen? Das wissen wir nicht, aber das ist auch okay so. Genau das macht diesen Ort aus: Keine Frau muss jemals Angst haben sich zu öffnen, denn es wird genau so viel geplaudert, erzählt und gefragt, wie es die Betroffene will. Nicht mehr und nicht weniger. Man spürt das Vertrauen und will es auf keinen Fall missbrauchen. Genauso schnell wie die Tränen kommen, kommt auch das Strahlen in den Augen wieder und wir setzen das Gespräch fort. Ich denke mir bloss: Unglaublich, wie stark sie ist.
Auch heute ist der kleine D. wieder da und wir zeichnen gemeinsam ein Haus, Er will es unbedingt grün haben und ich helfe ihm beim Ausmalen. Als unser Taxi dann vor der Tür steht und ich ihm mitteile, ich müsse gehen, aber nächste Woche wieder komme, wendet er sich ab. Einen Moment sagt er nichts und erst später kommt ein leises: "Und du kommst wirklich wieder?". Ich verstehe sofort, anscheinend hat er schon viele Abschiede hinter sich. Aber er ist clever. Mit vier Jahren Versprechen hinterfragen, ich denke nicht, dass ich das gekonnt hätte. Versichernd nicke ich ihm zu und gebe ihm zum Abschied ein Handschlag. Ich höre das Kichern hinter mir als wir die Metalltüre schliessen und ich mich in den Sitz des Taxis fallen lasse.
In der Zwischenzeit besuchten meine Mutter Michèle und ich das Bashira Centre auf Lesbos (vgl. Blogeintrag Teil 1).
Einige Tage später kamen wir nochmals nach Athen ins Amina Centre:
Von einem bereits bekannten dunklen Lockenkopf werde ich mit grossen Augen empfangen. „You are back!“ D. wirft mir einen Ball zu und schon sind wir zurück im Spiel. Ich freue mich, ihn wieder so munter zu sehen, und er sich anscheinend auch. Heute ist viel los im Amina Centre in Athen, denn auf dem Tagesprogramm steht: Pflanzen setzen. E., die Psychologin verteilt Becher, V. als Volunteer die Samen und F. , die Übersetzerin, die Erde. Die Frauen gehen freudig im Innenhof umher und zeigen ihren Kindern wie sie die Samen einzusetzen haben. Im Hintergrund läuft griechische Musik. Einige tanzen dazu, andere sitzen mit den Knien wippend dazu am Tisch und schlürfen an ihrem Kaffee. Ich entdecke ich einen weiteren Lockenkopf. Er schlingt sich durch die Beine aller andern, so klein und flink ist er. Bis er vor mir steht, mit einer Blume in der Hand. Zwar ziemlich verknittert durch das ständige Zusammendrücken in seiner Hand, doch trotzdem hübsch. Ich hatte ihn vorher beobachtet, wie er sie heimlich von einem der Töpfe abgerissen hatte. Ich knie zu ihm hinunter und er probiert sofort sie mir ins Haar zu stecken. So richtig funktioniert das jedoch nicht und ich schüttle lachend den Kopf. Da kommt auch schon seine Mutter um die Ecke und richtet mir die Blume liebevoll mit einem vielsagenden Blick. „Dieser kleine Chameur, unglaublich“, glaube ich wird sie denken, und wir lächeln uns an, als hätten wir uns verstanden.
Frischer Hummus, Falafel, gefüllte Teigtaschen in allen möglichen Formen, Tabulé und literweise Limonade. Als ich am Donnerstagmorgen durch das Eingangstor das belebte Amina Centre betrete, erwartet mich ein riesiges Festmahl. Vereint sitzen alle Frauen um den bunt beschmückten Tisch, auf dem sich dem Blick eine Vielfalt an leckerem Essen bietet, wie ich sie noch selten gesehen habe. Jede Frau ist heute extra früh aufgestanden, um noch vor der meist langen Anreise eine Köstlichkeit vorzubereiten. Was für ein wunderschönes Zusammenkommen und Gemeinschaftsgefühl! Die Teller werden herumgereicht und von einem bis zum anderen Ende des langen Tisches werden Gespräche geführt. Es bleibt mir nur wenig Zeit die Frauen lächelnd zu beobachten, da wird mir auch schon ein vollgeladener Teller mit allem drum und dran in die Hände gegeben, mit der Frage: „Hast du Hunger?“. Eigentlich hatte ich gerade erst gefrühstückt, doch ich kann gar nicht Nein sagen und es lohnt sich, denn das Essen schmeckt genauso gut wie es riecht: Ausgezeichnet.
Unglaublich wie wenig es braucht, um eine so warme und familiäre Atmosphäre zu kreieren. Ich spüre wie wohl ich mich hier fühle, aber mir wird sogleich bewusst, dass sich unser letzter Tag hier schon nähert. Nie hätte ich gedacht, dass mir diese Menschen so schnell ans Herz wachsen und ich so traurig sein werde, sie wieder verlassen zu müssen. Menschen, die so eine positive Ausstrahlung besitzen, trotz der immensen Schwierigkeiten, denen sie sich stellen müssen. Menschen, die einem zum Lachen und zum Nachdenken bringen. Frauen, die ich unglaublich bewundere dafür, was sie tun und wer sie sind. Jede einzelne dieser Frauen hier trägt etwas ganz Besonderes in sich. Denn trotz so vielen unverdienten und unfairen Hürden heute hier zu stehen und sich gegenseitig so zu unterstützen, das ist keinesfalls selbstverständlich. Die Frauen verdienen mehr Respekt, Bewunderung und Aufmerksamkeit. Man spürt, dass diese Kultur von SAO in den Zentren vorgelebt und gepflegt wird.
Diese Reise hat mir die Augen und das Herz geöffnet. Ich danke allen, die mir dies ermöglichten. Mit meinen Gefühlen weiss ich bis jetzt nicht genau wohin. Mit jedem einmalig schönen Erlebnis und Gespräch, welches mich erfüllte und mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte, stieg auch die Taubheit und die Wut der Ungerechtigkeit gegenüber. Die allgemeine Ungerechtigkeit, der sich insbesondere Migrantinnen täglich stellen müssen, einfach weil sie dort geboren wurden, wo sie es eben wurden und weil sie das Geschlecht haben, das sie nun einmal haben. Mir wurde schon früh beigebracht, ich soll meine Mitmenschen nicht mit negativen Gefühlen anzustecken. Doch in der aktuellen Weltsituation sehe ich darin eine Kraft- und Motivationsquelle, die wir dringend benötigen, um etwas zu ändern. Ich denke, in Einem sind wir uns alle einig: So kann und darf es nicht weitergehen."
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