Seit März und nach Beginn der Coronakrise ist auf der Insel Lesbos viel passiert. Eine Reihe schwerer Übergriffe auf NGOs und Flüchtlinge zwang viele Organisationen, ihre Aktivitäten einzustellen oder einzuschränken. Auch SAO schloss das Bashira Centre für Frauen angesichts der Angriffe griechischer Bürger und hielt seine Mitarbeiterinnen an, vorsichtig zu sein.
Dann kam das Coronavirus und setzte uns alle «gefangen». Für die Flüchtlingsfrauen wurde der ohnehin schon harte Alltag im Moria Camp noch schwieriger und stellte sie auf eine harte Probe. Ein Feuer brannte beispielsweise das Zelt von N. ab. Zum Glück konnte sie sich rechtzeitig retten, die Tasche mit ihren Papieren und einige persönlichen Dinge mitnehmen. Das Feuer verwüstete eine ganze Reihe von weiteren Zelten und zwei Container. Menschen wurden verletzt oder sahen das Wenige, das sie hatten, in Flammen aufgehen. Ein Kind verlor bei diesem Brand sein Leben.
Zwei Frauen, die regelmässig das SAO Bashira Centre besuchen, F. und Y., wurden Opfer eines Messerangriffs, als sie sich ausserhalb des Lagers mit Bekannten unterhielten. Bei der Attacke wurden ihnen Messer an die Kehle gesetzt und Schläge in den Rücken verpasst. Einer anderen Frau wurde das Telefon gestohlen, ihrem Bekannten der Unterarm gebrochen und die Hand aufgeschlitzt. F. und Y. sind nicht verletzt worden, sind aber immer noch schockiert über den Vorfall.
Weniger gewalttätig, aber genauso einschneidend war, dass F. ihre Decke gestohlen wurde. Sie hatte sie gewaschen und zum Trocknen aufgehängt. Immer ein Auge auf sein Hab und Gut haben zu müssen, ist für die Bewohner des Lagers von Moria eine ständige Belastung. Obwohl dies vielleicht erstaunt, ist etwas so Banales wie eine Decke ein wichtiges und kostbares Gut im Camp. Decken werden bei der Ankunft in Moria ausgehändigt. Sie schützen vor dem kalten Boden, dem rauen Wind – lassen aber auch ein winzigen Stück Privatsphäre entstehen, in das man sich zurückziehen, sich aufwärmen kann. Es ist nicht möglich, von der Lagerleitung eine neue Decke zu bekommen, und es ist während des Lockdowns unmöglich, in ein Auto oder einen Bus zu hüpfen, um eine neue Decke zu kaufen. F. behalf sich damit, sämtliche Kleider übereinander anzuziehen. Unter den «Bashira Frauen», die in Moria leben, sprach sich der Diebstahl jedoch rasch herum. Die Solidarität war gross. F. konnte sich eine Decke für die Nacht ausleihen, bevor sie am nächsten Tag eine neue von uns bekam. Teil des SAO Netzwerks zu sein, ist ein echter Vorteil, wenn es gilt, Schwierigkeiten zu meistern.
J. teilt sich in Moira eine Isobox (Wohncontainer) mit 20 anderen Frauen. Der Container ist von Zelten umgeben, in denen Familien untergebracht sind. Vergangene Woche kam plötzlich eine Gruppe junger Flüchtlinge, um die Frauen im Container anzugreifen. Sie versuchten, das Schloss aufzubrechen, und stachen mit Messern in die Aussenwände. Den Frauen gelang es, sich in der Isobox einschliessen. Es wurde zum Glück niemand verletzt. Mitglieder von geflüchteten Familien aus Afghanistan, die in den umliegenden Zelten hausen, haben die jungen Männer vertrieben. Angst und Stress, die zu den sonst schon schwierigen Lebensbedingungen im Lager Moria hinzukommen, bleiben.
Doch es geht noch weiter: Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit auf der Insel und die Pflicht, jeden Gang von A nach B anzumelden, wird durch eine ständige Polizeipräsenz auf den Strassen und tägliche Polizeikontrollen durchgesetzt. Dabei wird die unverhohlene Anfeindung gegen farbige und muslimische Menschen sichtbar. Eine Mitarbeiterin von SAO, die den Hijab trägt, wurde ins Visier genommen und mehrmals von der Polizei kontrolliert, verbal angegriffen und aufgefordert, nach Hause zu gehen, obwohl sie erlaubte Besorgungen machte und bisher nie auf der Strasse kontrolliert worden war.
Auch wenn ich es bereits wusste, sind alle diese Vorkommnisse für mich ein weiterer Beweis dafür, dass es das Bashria Centre von SAO und die Sicherheit, die es bietet, unbedingt braucht. Heute können unsere Frauen wegen der Gefahr einer Infektion mit dem Coronavirus das Lager Moria und die Camps der Umgebung nicht verlassen. Das können aber auch die Täter nicht – letztlich sind auch sie Opfer der Zustände. Ich entschuldige nichts, wenn ich das sage, aber es ist sicher, dass die unerträglichen Bedingungen im Lager sowohl für psychisch belastete, als auch für gewaltbereite Menschen schwierig sind. Es ist für mich schwer mitzuerleben, dass die Frauen, die wir im Bashira Centre betreuen, dies durchmachen müssen - nachdem, was sie alles bereits erlebt, durchgestanden und durchlitten haben
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Unterstützung von SAO, mit der wir den Betrieb des Bashira Centres auf Lesbos und des Amina Centres in Athen aufrechterhalten können.
Sabrina Lesage leitet das Bashira Centre von SAO auf Lesbos als Program Manager. Die ausgebildete Sozialarbeiterin stammt aus Frankreich und hat einen Universitätsabschluss in sozialer Weiterbildung und Veränderung. Vor ihrem Einsatz für SAO arbeitete sie in Frankreich in einem Wohnprogramm für sozial Benachteiligte, Obdachlose und Opfern von häuslicher und geschlechterspezfischer Gewalt. Sabrina hat viele Länder bereist und entspannt sich in ihrer Freizeit mit Yoga.
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